Land ohne Halt und ohne Haltung

Es schlingert verloren durch die Zeiten. Weiß nicht mehr, was seine Essenz und seine Idee ist. Kein Gleichgewicht und keine Souveränität, keine Substanz und kein Kompass, Opportunität als geistige Richtschnur, die selbst ein Klavier im Parlament nicht mehr aushält, die tragenden Kräfte in Identitätskrisen gefangen, die FPÖ als rabiate Ventilpartei auf dem Sprung zu Platz eins.

Der Chefredakteur der Kleinen Zeitung, Hubert Patterer, seziert Österreich.

Der unselige Streit um die Frage, ob Österreichs Bundesheer in der Ukraine fern der Frontlinien rund um Schulen, Äckern und Kindergärten Minen entschärfen helfen solle, weil verstümmelte Kinder und Bauern Sani-Kräfte binden, passt ins Außenbild eines unsolidarischen, duckmäuserischen, auf den Vorteil bedachten Kleinstaats. Die Regierung stellte gestern klar, man werde keine Spezialisten entsenden, man sei neutral. Man sagte es in einem Tonfall, der so wirkte, als sei man geradezu stolz auf die Festlegung. Politische Mimikry aus Angst vor der FPÖ und Herbert Kickl. Und den goldenen Flügel verräumt man auch gleich aus ängstlicher Prinzipienlosigkeit.

„Die Art, wie unter Kurz I regiert wurde, war ein erster Weg in eine andere Staatsform.“

Sagte der ehemalige Justizminister Clemens Jabloner im Vorjahr und führt drei Punkte als Beispiel dafür an:

  • Der Überfall auf das Bundesamt für Verfassungsschutz (inklusive Versagen von Staatsanwaltschaft und Strafjustiz),
  • die Kürzung der Familienbeihilfe für Ausländer, die klar EU-Recht widersprach und trotzdem einfach durchgedrückt wurde,
  • die Steuerakte Sigi Wolf, der sich zur Behandlung seiner Steuersache mit einer Abteilungsleiterin des Finanzministeriums in einer Raststätte traf.

Das Profil hat die Aussage hier ausführlich zitiert.

Benko, Raiffeisen, Mateschitz und Co wollen nicht zufällig Medien besitzen

Many Turkish news outlets are owned by pro-Erdogan businessmen, ensuring that they provided a steady stream of exultant coverage, with little attention paid to corruption allegations or government mistakes. The government has forced some news organizations critical of it to shut down, fined others for their coverage, and prosecuted some journalists. The group Reporters Without Borders ranks Turkey 165th in press freedom out of 180 countries it grades.

New York Times

Der Text dazu in der New York Times. Auch in Ungarn wurden die Medien dafür benutzt, die Autokratie Orbans auszubauen.

Chinas Aufstieg und seine Demografie

China’s workforce has already peaked, according to official statistics. It has 4.5 times as many 15- to 64-year-olds as America. By mid-century it will have only 3.4 times as many, according to the un’s “median” forecast. By the end of the century the ratio will drop to 1.7.

Wann überholt China die USA wirtschaftlich? Später, als gedacht oder vielleicht auch gar nie, scheinen immer mehr zu denken. Sehr lesenswerter Text dazu im Economist.

Senken Luxuswohnungen die Mieten für Normalverdiener? (Ja.)

Die meisten Menschen wollen günstigen Wohnraum. Was wirklich gebaut wird ist für viele von ihnen aber nicht leistbar. Darum, so das Argument, sind Neubauten nicht die Lösung für zu hohe Mieten.

Drei Wissenschafterinnen von der New York University sind diesem Argument nachgegangen – und haben die wissenschaftliche Literatur zusammengefasst (Stand 2018, der Link zur Studie).

Hält das Argument?

Nein, nicht wirklich, auch wenn es einen wahren Kern hat.

Der freie Markt sorgt nicht für genügend leistbare Wohnungen für Menschen mit niedrigen Einkommen. Das ist korrekt und deshalb braucht es Förderungen, Wohnbeihilfen und sozialen Wohnbau.

Aber: Wohnungen, die für den freien Markt gebaut werden, senken sehr wohl die Mietpreise für den gesamten Wohnungsmarkt, schreiben die drei. Dafür gibt es sehr gute Evidenz.

Dort, wo es mehr Hürden für Neubauten und deshalb weniger davon gibt, sind die Mietpreise höher. Eine Übersichtsarbeit aus 2015 zeigt, dass dort, wo der Wohnungsmarkt stärker reguliert ist, weniger gebaut wird und die Mietpreise höher sind.

Das Problem ist, dass die Art und Weise, wie freifinanzierte Wohnungen die Mieten senken, auf den ersten Blick nicht intuitiv ist.

Mieten steigen u.a., weil viele Menschen an einem Ort wohnen wollen. Viele Menschen ziehen hin und deshalb wird dort auch mehr gebaut. Die Mieten steigen also oft genau dort, wo viel gebaut wird. Das ist aber Korrelation, nicht Kausalität.

Denn was sich leider nicht mit freiem Auge beobachten lässt: Um wie viel mehr die Mieten gestiegen wären, wenn nicht mehr gebaut worden wäre. Neubauten dämpfen oft die Entwicklung der Mietpreise, senken sie aber nicht.

Wohnungsmärkte sind speziell. Sie funktionieren anders als etwa Märkte für Kartoffeln. Die drei schreiben, dass es in einer Stadt nicht einen Wohnungsmarkt gäbe, sondern dass man sich eher verschiedene Wohnungssubmärkte vorstellen müsse.

Vereinfacht: Einer für Besserverdiener, einer für die Mittelschicht, einer für Menschen mit niedrigen Einkommen. Jeder dieser Märkte hat ein eigenes Angebot an Wohnungen, eine Nachfrage und auch einen eigenen Preis (= Miete).

Wohnungen, die für den freien Markt errichtet werden, sind meistens für Besserverdiener gedacht, weil die Errichtung teuer ist. Mehr Neubauten erhöhen also direkt nur das Angebot an Wohnungen im oberen Segment – und dämpfen dort die Mietpreisentwicklung.

Und was hat jetzt jemand im mittleren oder unteren Wohnungsmarkt davon? Die Märkte sind nicht voneinander getrennt, sondern sie beeinflussen sich gegenseitig.

Stellen wir uns eine Stadt vor, in der keine neuen Wohnungen für Besserverdiener gebaut werden, in der aber mehr Menschen mit guten Einkommen ziehen. Im oberen Wohnungsmarkt steigen also die Mieten stärker, als wenn das Angebot gestiegen wäre. Angebot und Nachfrage eben.

Für manche Gutverdiener wird das zu teuer und sie schauen sich nach leistbareren Wohnungen im mittleren Segment um – und treiben damit auch dort die Preise nach oben.

Mittelfristig sinkt auch das Angebot an „mittleren“ Wohnungen: Denn die höheren Preise für die „guten“ Wohnungen sind ein Anreiz, ältere Wohnungen so zu sanieren, dass man in diesen Markt kommt. Das entzieht also den anderen Segmenten Angebot und lässt den Preis steigen.

Langfristig dämpfen die neuen Wohnungen ebenfalls die Mietpreise. Denn eine Wohnung, die heute neu und hipp ist, ist das in 30 oder 40 Jahren tendenziell nicht mehr. Die heute teuren Wohnungen werden also mit der Zeit auch für untere Einkommensschichten leistbar.

Das gilt natürlich nicht für jede Luxuswohnung, aber allgemein hält das. Das ist nicht nur Theorie, sondern dafür gibt es gute Evidenz durch empirische Studien. Eine zeigt etwa, dass ein Viertel der 2013 für die ärmsten US-Amerikaner leistbaren Wohnungen 30 Jahre zuvor Wohnungen für Bessersituierte waren.

Auch wenn nur Luxus-Wohnungen gebaut werden, profitieren „Normalos“ also davon.

Das heißt aber nicht, dass der freie Markt alles löst. Für die Menschen mit den niedrigsten Einkommen braucht es staatliche Hilfe, damit sie sich das Wohnen leisten können.

In der Studie wird empfohlen: Auflagen für Immobilienentwickler. Wenn sie für den freien Markt bauen, müssen sie gleichzeitig leistbarere Wohnungen errichten. Genau das passiert in Wien.

Am Ende noch ein wichtiger Aspekt: Es ist selbsterklärend, warum es gut ist, dass die Mieten nicht zu hoch sind. Niedrigere Mieten in Ballungszentren vermeiden aber auch andere negative Effekte.

Je höher die Mieten in der Stadt, desto mehr Menschen ziehen aufs Land oder in die Vororte. Das führt zu mehr Verkehr und anderen Umweltschäden. Außerdem gibt es Netzwerkeffekte in Städten, die für unseren Wohlstand gut sind.

Wenn viele schlaue Menschen an einem Ort sind, entsehen meistens gute Dinge. Zieht jemand nicht in eine Stadt, weil sie sich das nicht leisten kann, nimmt das Menschen die Freiheit, ihr Leben so zu leben, wie sie das gerne würden.

Warum Unternehmer Übergewinne machen

Mein Kollege András Szigetvari hat ein hochinteressantes Interview mit der Ökonomin Isabella Weber geführt. Auf einem kompetitiven Markt können Unternehmen normalerweise nicht einfach die Preise erhöhen, ohne einen Mehrwert anzubieten. Ansonsten gehen die Kund:innen einfach zum nächstbesten Anbieter. Der Energiepreisschock hat das aber auf den Kopf gestellt, sagt Weber.

Jeder Unternehmer weiß, dass auch die anderen den gleichen Kostenschock durchleben, und erwartet deshalb, dass alle mit einer Preissteigerung auf diese Situation reagieren. Also müssen Unternehmen nicht fürchten, Marktanteile an ihre Konkurrenten zu verlieren, selbst wenn sie ihre Preise erhöhen. Aber da sind noch andere Mechanismen am Werk.

Noch ein Effekt kam dazu: Wenn Konsumenten erwarten, dass die Preise steigen, kann man sie gleich noch ein bisschen mehr erhöhen, ohne sie zu verärgern.

Preissteigerungen sind Teil einer sozialen Beziehung zwischen Unternehmen und ihren Kunden. Wenn die Teuerung aus dem Nichts entsteht, dann reagieren Kunden frustriert und wandern zur Konkurrenz ab. Wenn aber die Preissteigerungen legitim erscheinen, weil man jeden Tag in den Nachrichten hört, dass die Energiekosten so stark gestiegen sind, dann verändert das die Nachfrage-Elastizität, wie Ökonomen sagen.

Ein weiterer Effekt kam dazu: Durch die Lieferkettenprobleme und die Engpässe bei Mikrochips war es für viele Unternehmer schwierig, den bisherigen Kundenstamm zu bedienen. Darum strömten sie weniger in neue Territorien aus, was den Wettbewerb senkte, so Weber: Temporäre Monopole.

Lest hier das ganze, hochinteressante Interview.

Wie wir unseren Planeten (nicht) retten

Ich habe How to Save Our Planet: The Facts von Mark Maslin gelesen. Eine kurze Rezension.

Das erste Drittel des Buchs ist lesenswert. Ich mochte den kurzen, peppigen Stil. Das ist der Teil, in dem Mark Maslin, Professor für Earth System Science am University College in London, Expertise hat: Klimaveränderungen.

Je mehr das Buch auf politische, gesellschaftliche, ökonomische Lösungen eingeht, desto beliebiger wird es.

Kein Eingehen auf trade-offs, darauf, wie politische Allianzen geschmiedet und soziale Normen verändert werden können.

Außer für ein paar Ölkonzerne, die Reformen blockieren, ist in der Lesart Maslins alles ein schlichtes „win win“.

Keine Pfadabhängigkeit beim Pendlerverkehr, keine Bürgerproteste, wenn Parkplätze weg kommen, kein Aufschreien, wenn Energie teurer und Subventionen abgeschafft werden.

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Was weißt du über Victor Adler?

Robert Misik hat ein Buch über Victor Adler geschrieben. Das ist schon sieben Jahre her. Aber wie alle Bücher von Misik ist auch dieses stilistisch toll verfasst.

Es bietet eine kurze Einführung in das Leben und Wirken Adlers, einem Politiker, der die Sozialdemokratie und damit Österreich prägte, dessen Geschichte aber weithin unbekannt ist – auch mir.

Ich hätte mir noch 300, 400 Seiten mehr gewünscht, für Politik- und Geschichteinteressierte aber auch so ein Lesetipp!

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Herfried Münkler über den Umgang mit Russland

Russland leide an postimperialen Phantomschmerzen, analysiert der deutsche Politikwissenschafter Herfried Münkler. Die Ukraine sei weg, der Schmerz trotzdem noch zu spüren. Nun gebe es drei Wege, mit einer revisionistischen Macht wie Russland umzugehen:

  1. Wohlstandstransfergescheitert: Das Modell Nord Stream 1 und 2. Handel führt zu Wohlstand in der russischen Mittelschicht, die Kosten von Grenzverschiebungen oder Kriegen werden zu hoch.
  2. Appeasementgescheitert: Das Modell Minsk 1 und Minsk 2. Man fragt den Revisionisten: Was hättest du denn gerne, wie kann ich dir entgegenkommen, was wäre ein Kompromiss?
  3. Abschreckung: Auf lange Zeit die einzige Möglichkeit. Heißt: Aufrüstung.

Hier der ganze Vortrag zum Nachsehen – sehr empfehlenswert!

Russland sei nicht die einzige revisionistische Macht in Europa. Es gebe die Türkei, die seit der zweiten Hälfte der Regierungszeit Erdogans eine neoosmanische Politik verfolge. Es gebe Ungarn, das unzufrieden damit sei, dass so viele Ungarn außerhalb ihres Staatsgebiets leben. Und dann sei da noch Serbien, der Verlierer der jugoslawischen Zerfallskriege. Deswegen werde der Raum um das Schwarze Meer auf Jahrzehnte die größte sicherheitspolitische Herausforderung der Europäer.

Münkler geht auch auf ein mögliches Ende des Ukraine-Kriegs ein.

Für Russland sei ein baldiges Ende schwierig, zum einen stehe man tief in der Ukraine, da sei es historisch betrachtet immer schwer, quasi aufzuhören. Zum anderen habe man hohe Opferzahlen zu beklagen. Letzeres führe selten dazu, dass man Frieden schließe. Viel eher kämpfe man jetzt erst recht, damit die Soldaten gewissermaßen nicht umsonst gestorben sind.

Für die Ukraine sei ein baldiges Ende ebenfalls schwierig, denn dazu müsste man einen Kompromiss schließen und eigenes Gebiet aufgeben. Das sei für einen Präsidenten schwer zu kommunizieren. Und auch hier gelte: Dass schon viele Menschen sterben mussten, macht das aufhören schwer.

Den Patt lösen könnten nur Sicherheitsgarantien von NATO-Staaten für die Ukraine, sagt Münkler im Vortrag. Das könnte neben einem Waffenstilland das Ergebnis von Verhandlungen sein. Denn ohne solche Garantien könnte Russland die Pause einfach nutzen, um später gestärkt erneut anzugreifen. .

Dass es dazu komme, werde aber wohl dauern. Denn dazu müsse die Aussicht, die eigene Situation noch durch Kampfhandlungen zu verbessern, bei beiden schwinden.

Münkler zur Schweizer Neutralität

Im Ersten Weltkrieg sei die Schweizer Neutralität logisch gewesen, denn dieser war zum Teil eine Auseinandersetzung von Deutschland und Frankreich. Parteinahme hätte die Schweiz zerissen. Beim Zweiten Weltkrieg sei das zum Teil noch ähnlich gewesen, im Kalten Krieg die Neutralität aber kaum mehr argumentierbar, denn es sei klar gewesen, auf welcher Seite man eigentlich stehe.

Trotzdem gab es aber noch so etwas wie eine Neutralitätsdividende. Heute gebe es diese nicht mehr, man habe also keine Vorteile mehr durch die Neutralität und trage nur mehr die Kosten in der Form von Nichtbeteiligung an den für die Schweiz relevanten Sicherheitsentscheidungen in NATO und EU.

Um im Krieg in der Ukraine als Vermittler aufzutreten, dafür fehle der Schweiz die Größe und die Macht. Denn dazu müsse man das eigens ausverhandelte Ergebnis auch als Garantiemacht absichern können.