Mehr Ausländer, weniger Sozialstaat? Warum das nicht so einfach ist, wie es klingt

Führt die gestiegene Migration nach Westeuropa dazu, dass weniger Menschen einen gut ausgebauten Sozialstaat befürworten?

Zugespitzt: Wenn „der Ausländer“ auch Mindestsicherung, kostenlose Arzt-Besuche und Familienbeihilfe bekommt, wollen dann mehr Menschen diese Leistungen wieder kürzen?

Was der Stand der Forschung dazu ist, damit beschäftigen sich Charlotte Cavaillé (University of Michigan) and Karine Van der Straeten (Toulouse School of Economics) in einer neuen Studie (Immigration and Support for Redistribution: Lessons from Europe).

Vor allem der Blick über den Atlantik prägt unsere Vorstellung davon, dass ethnisch diverse Länder weniger solidarisch sind als ethnisch homogenere.

Denn die USA sind eines der reichsten Länder der Welt. Deutlich reicher als etwa Österreich. Trotzdem grassiert dort die Armut, weil der Sozialstaat kaum ausgebaut ist. Warum ist das so? Alesina und Glaeser 2004 argumentieren: Weil die USA ethnisch so divers sind.

Ihre Hypothese:

Menschen unterstützen andere nicht nur aus egoistischen, sondern aus altruistischen Motiven. Ein egoistischer Grund wäre: Wenn Ärmere keine Hilfen bekommen gibt es soziale Unruhen. Ein altruistischer Grund: Kein Mensch soll unverhältnismäßig Leid erfahren.

Dieser Altruismus existiert in der Lesart von Alesina und Glaeser nur für Menschen, die als Teil der eigenen Gruppe betrachtet werden. Je kulturell & ethnisch diverser, desto weniger Solidarität.

In den vergangenen Jahrzehnten sind immer mehr Menschen, die nicht weiß und christlichen Glaubens sind, nach Europa migriert. Weil unter ihnen die Armuts- und Arbeitslosenquote höher ist, könnte das den Sozialstaat in europäischen Ländern gefährden, argumentieren viele.

In der Tat gibt es einen klaren Zusammenhang:

Je negativer Menschen in Deutschland, Schweden, Frankreich und Großbritannien Migration sehen, desto weniger sind sie dafür, dass der Staat den Lebensstandard von Arbeitslosen sichern sollte.

Mit ihrer Unterstützung für generelle staatliche Umverteilung zum Ausgleich von Ungleichheiten gibt es aber keine Korrelation.

Soroka 2016 dokumentiert, dass in Ländern und in Jahren, in denen Migration höher ist, die Leistungen für Arbeitslose weniger stark steigen. Das betrifft andere Sozialleistungen, von denen mehr Autochthone profitieren, nicht.

In den USA hat Alesina 2020 dokumentiert, dass in Staaten mit mehr People of Color weniger Menschen für Umverteilung sind. Für die USA ist von Tabellini 2020 dokumentiert, dass hohe Migration, die konzentriert auf kurze Zeit passiert, dazu führt, dass der Staat weniger Geld verteilt.

Aber gilt das auch für Europa?

Für Schweden gibt es dazu gute Daten. In den 1980er und 1990er Jahren wurden viele Flüchtlinge im Land verteilt. An Orten, wo von nun an viele Flüchtlinge wohnten, sank die Unterstützung der Bevölkerung für Umverteilung (Dahlberg 2012).

Das betraf aber nur Menschen, die wirtschaftlich abgesichert, also wohlhabend, waren.

Note that in Great Britain, during the period of declining support for means-tested benefits, agreement that it is “the responsibility of the government to reduce income differences between the rich and the poor” remained stable at around 70 percent. In contrast, agreement that it is “the responsibility of the government to provide a decent standard of living for the unemployed” dropped from 85 percent in 1985 to 60 percent in 2016

Ist die „Amerikanisierungs-These“ also korrekt?

Führt Migration dazu, dass in Westeuropa weniger Menschen für den Sozialstaat und Umverteilung sind?

Die Evidenz ist gemischt. Viel wichtiger, ob jemand als Teil der eigenen Gruppe gesehen wird („weiß“, „christlich“) ist in der Lesart der Studie von Cavaillé und Van der Straeten, ob man das Gefühl hat, dass die Person dem Staat auf der Tasche liegt – oder sie sich anstrengt und einen Beitrag leistet. Dann ist Gruppenzugehörigkeit gar nicht mehr so wichtig:

These results suggest that group boundaries are porous: a few years living and working in a country is often enough for a non-White Muslim immigrant to be treated in a hypothetical experimental context as if a native with similar job history.

In Österreich gibt es im europäischen Vergleich besonders viele Menschen, die der Meinung sind, dass Migranten nie die selben Rechte im Sozialstaat bekommen sollten wie hier geborene Menschen.

Wichtig zu unterscheiden ist: In den USA gab es hohe Diversität, bevor ein Sozialstaat hätte existieren können. In Europa war der Sozialstaat schon mindestens zwei Jahrzehnte alt, bevor es nennenswerte Migrationsbewegungen nicht-weißer, nicht-christlicher Menschen gab.

Das macht einen großen Unterschied: Denn wer durch das öffentliche Gesundheits- und Bildungssystem bereits stark profitiert hat und ihm vielleicht sogar seinen gesellschaftlichen Rang verdankt, der unterstützt den Sozialstaat viel eher, auch wenn die Migration steigt.

Noch ein Grund, warum der Vergleich nicht so einfach ist: In den USA sind Sozialleistungen viel häufiger auf Ärmere zugeschnitten. Wohlhabendere Menschen haben dadurch weniger Anreiz, Sozialleistungen zu unterstützen. In Europa, wo mehr Leistungen unabhängig vom Einkommen der Bezieher:innen verteilt werden, verliert die Mittelschicht viel eher auch selbst durch Kürzungen.

Findet nun durch stark gestiegene Migration eine Amerikanisierung Westeuropas statt in dem Sinne, dass der Sozialstaat weniger Unterstützung erfährt?

In den USA sind weiße Bürger:innen mit niedrigen Einkommen gegen den Sozialstaat, obwohl sie selbst davon profitieren würden. Quasi: Hauptsache People of Color bekommen nichts. Hier ist die Evidenz klar: Je diverser, desto weniger Sozialstaat.

In Westeuropa passiert das nicht: Rechtsaußen-Parteien in Frankreich, Großbritannien und Österreich unterstützen den Sozialstaat, versuchen aber Migrant:innen davon auszuschließen. Hohe Migration untergräbt hier also nicht den Sozialstaat, führt aber zu Wohlfahrtschauvinismus.

Während Rechtsaußen-Parteien in den 1980er Jahren oft den Sozialstaat beschneiden wollten, haben sie sich mit ihrer steigenden Beliebtheit heute darauf konzentriert, dass möglichst wenig Menschen, die sie nicht als Teil ihrer eigenen Gruppe sehen, davon profitieren.

Der Zeitpunkt der Migration macht also einen großen Unterschied, wie Migration auf einen Sozialstaat wirkt:

Ist ein Sozialstaat erst einmal eingeführt, gibt es häufig zu viele Menschen, die davon profitieren, dass er so nebenbei wieder abgeschafft werden könnte.