Russland leide an postimperialen Phantomschmerzen, analysiert der deutsche Politikwissenschafter Herfried Münkler. Die Ukraine sei weg, der Schmerz trotzdem noch zu spüren. Nun gebe es drei Wege, mit einer revisionistischen Macht wie Russland umzugehen:
- Wohlstandstransfer – gescheitert: Das Modell Nord Stream 1 und 2. Handel führt zu Wohlstand in der russischen Mittelschicht, die Kosten von Grenzverschiebungen oder Kriegen werden zu hoch.
- Appeasement – gescheitert: Das Modell Minsk 1 und Minsk 2. Man fragt den Revisionisten: Was hättest du denn gerne, wie kann ich dir entgegenkommen, was wäre ein Kompromiss?
- Abschreckung: Auf lange Zeit die einzige Möglichkeit. Heißt: Aufrüstung.
Hier der ganze Vortrag zum Nachsehen – sehr empfehlenswert!
Russland sei nicht die einzige revisionistische Macht in Europa. Es gebe die Türkei, die seit der zweiten Hälfte der Regierungszeit Erdogans eine neoosmanische Politik verfolge. Es gebe Ungarn, das unzufrieden damit sei, dass so viele Ungarn außerhalb ihres Staatsgebiets leben. Und dann sei da noch Serbien, der Verlierer der jugoslawischen Zerfallskriege. Deswegen werde der Raum um das Schwarze Meer auf Jahrzehnte die größte sicherheitspolitische Herausforderung der Europäer.
Münkler geht auch auf ein mögliches Ende des Ukraine-Kriegs ein.
Für Russland sei ein baldiges Ende schwierig, zum einen stehe man tief in der Ukraine, da sei es historisch betrachtet immer schwer, quasi aufzuhören. Zum anderen habe man hohe Opferzahlen zu beklagen. Letzeres führe selten dazu, dass man Frieden schließe. Viel eher kämpfe man jetzt erst recht, damit die Soldaten gewissermaßen nicht umsonst gestorben sind.
Für die Ukraine sei ein baldiges Ende ebenfalls schwierig, denn dazu müsste man einen Kompromiss schließen und eigenes Gebiet aufgeben. Das sei für einen Präsidenten schwer zu kommunizieren. Und auch hier gelte: Dass schon viele Menschen sterben mussten, macht das aufhören schwer.
Den Patt lösen könnten nur Sicherheitsgarantien von NATO-Staaten für die Ukraine, sagt Münkler im Vortrag. Das könnte neben einem Waffenstilland das Ergebnis von Verhandlungen sein. Denn ohne solche Garantien könnte Russland die Pause einfach nutzen, um später gestärkt erneut anzugreifen. .
Dass es dazu komme, werde aber wohl dauern. Denn dazu müsse die Aussicht, die eigene Situation noch durch Kampfhandlungen zu verbessern, bei beiden schwinden.
Münkler zur Schweizer Neutralität
Im Ersten Weltkrieg sei die Schweizer Neutralität logisch gewesen, denn dieser war zum Teil eine Auseinandersetzung von Deutschland und Frankreich. Parteinahme hätte die Schweiz zerissen. Beim Zweiten Weltkrieg sei das zum Teil noch ähnlich gewesen, im Kalten Krieg die Neutralität aber kaum mehr argumentierbar, denn es sei klar gewesen, auf welcher Seite man eigentlich stehe.
Trotzdem gab es aber noch so etwas wie eine Neutralitätsdividende. Heute gebe es diese nicht mehr, man habe also keine Vorteile mehr durch die Neutralität und trage nur mehr die Kosten in der Form von Nichtbeteiligung an den für die Schweiz relevanten Sicherheitsentscheidungen in NATO und EU.
Um im Krieg in der Ukraine als Vermittler aufzutreten, dafür fehle der Schweiz die Größe und die Macht. Denn dazu müsse man das eigens ausverhandelte Ergebnis auch als Garantiemacht absichern können.